Der Da Vinci der Karikatur – Honoré Daumier

Besuch in der Graphischen Sammlung des Städel

Wie schnell er zeichnen konnte und wie treffsicher! Er konnte die Stimmung einer Epoche mit feinen Pinselstrichen einfangen. Ein Künstler. Honoré Daumier (1808 – 1879). Im verdunkelten Seitenflügel von Städels Graphischer Sammlung stehen wir vor seinen Zeichnungen und blicken wie durch Fenster ins Frankreich des 19. Jahrhunderts. Wir erkennen seine Zeit im Mienenspiel und den karnevalesken Gesten der Figuren, an der Art, wie sie sich einander zuwenden oder vollkommen in ihre fleischigen Bäuche versinken. Ihre Haltungen sind überzeichnet, zeigen aber auch keinerlei Scham, vielleicht weil es keine allgegenwärtigen Kameras gab – nur den politisch engagierten Betrachter Daumier, der bereits im Alter von zwanzig Jahren die Seelenzustände mächtiger Protagonisten zu erfassen vermochte – ihre Gier und Schläue, ihren Hochmut und ihre Ignoranz. Damals stand in Frankreich, stand in Europa der Frieden auf dem Spiel. Ob intern die Monarchie oder die Republik den Sieg davon tragen würde, war noch nicht endgültig ausgemacht. In die drohenden Spannungen zwischen Frankreich und Preußen oder Russland zwängte sich indessen auch da schon in kraftlos ausgeleiertem Kleid die alte Dame Diplomatie dazwischen, während Europa als balancierende Fortuna auf einer bereits gezündeten Granate das Gleichgewicht zu halten sucht.

Die Zeichnungen und Lithographien dieses als „Michelangelo der Karikatur“ bezeichneten Künstlers (dabei wäre Da Vinci ein passenderer Vergleich, der doch wie kein anderer den Alltag der Menschen in ihren Gesichtern zu erfassen suchte) könnten genauso gut in der heutigen Presse abgedruckt sein. Es ist aber die quirlige Intensität der menschlichen Beziehungsakrobatik, die ausdrucksreiche Stärke ihrer Rollen und Masken, die den besonderen Charakter und die Dynamik seiner Zeit auszumachen scheinen. Der für verschiedene kritische Zeitungen arbeitende Illustrator Daumier musste das Wesen der Menschen erkannt haben und nutzte seine Gabe, es mit Graphit, Tusche und Kreide in lesbare Linien umzuwandeln. Wenn er sich einerseits mit leichten Federstrichen der Göttinnen der griechischen Mythologie bediente, so schöpfte er andererseits reichlich aus eigener Phantasie. Das alltägliche Leben auf den Pariser Straßen, in Wirtsstuben oder Salons werden ebenso lebensecht dargestellt wie die erstarrte Arroganz der Justiz oder die dummen Gesichter politischer Macht überspitzt. Dabei tauchen überraschend bekannte Motive auf, wie die Form der Birne als grundlegende Physiognomie, mit der Daumier den Politikern der dritten Republik seine charakteristische Komik verlieh, lange bevor sie für Altkanzler Helmut Kohl stehen würde. Bald darauf stehe ich vor einer Zeichnung („Halunke von einem Hausbesitzer“), die mich an Spitzwegs „der arme Poet“ erinnert: Ein Zipfelmütze tragender Mann im schmalen Bett hält den Regenschirm aufgespannt, um sich vor eindringenden Niederschlag zu schützen. Allerdings stammt diese Zeichnung aus dem Jahr 1847, also einige Jahre nachdem Spitzweg seinen Poeten 1839 erschuf. 

Die aufbrechenden technischen Neuerungen finden Daumiers Interesse im Einzug der Eisenbahn, der Funkstationen und der Photographie. Lustige Zeitdokumente finden sich da, absolut einzigartig. Neu aber ist für mich, dass es bei der noch langsam fahrenden Eisenbahn eine Bank auf dem Wagendach gegeben hat, die den Fahrgästen den rußigen Fahrtwind und alle möglichen Partikel ins Gesicht und unter die Zylinder blies. 

Ich möchte mit Maria Eindrücke zur Ausstellung im Café austauschen, als mich ein langes dünnes Männlein zurückhält, das mich regelrecht in die Gegenwart zurückruft. Ratlos scheint es vor den Wegweisern zu verharren – ein Bild mit dem Titel „nach rechts oder links?“ 

Botschafterinnen von Lebensrätseln

Fotografie Forum Frankfurt: Aida Muluneh – „On the Edge of Past Future“

„Wir sind Zeugen, die am Wegesrand stehen, gefesselt von Bequemlichkeit und Konformität.“ So schreibt Aida Muluneh. Ein starkes Bild, das sie in den Schriften zu ihrer Ausstellung „On the Edge of Past Future“ in Worte fasst. Die Künstlerin kommt aus Äthiopien und ist seit ihrer Kindheit in allen möglichen Ländern beheimatet gewesen. Sie ist, um im Bild zu bleiben, eine Zeugin vom afrikanischen Wegesrand einer immer enger zusammenwachsenden Welt.

Mich spricht diese Perspektive an und so gehe ich inspiriert durch Mulunehs Schau. Zunächst bin ich überwältigt von den Farben, den klar umrissenen Formen und Flächen, leeren Landschaften, Räumen, Gewässern und Himmeln und den schwarzen Frauen mitten darin. Auf jeder Fotografie sind die Gesichter weiß bemalt, tragen schwarze Punkte, ihre Körper sind kostümiert, in mythisch wehenden Gewändern, leuchtend. Rot, Gelb oder Blau. Diese Frauen haben etwas von außerzeitlichen Wesen, Priesterinnen, Botschafterinnen. Sie mögen Trägerinnen von Lebensrätseln, Ideologien und Legenden sein, deren vertraute Symbolik aus dem Rahmen gerissen ist. In dieser Welt des Surrealen lassen sie an Motive von René Magritte denken, an seine Schirme, seine Rückenmotive, seine Wölkchen auf hellblauen Himmeln. Eine Frau sitzt aufrecht auf einem Stuhl, ihr Rücken ist mit dem Yves Klein-Blau bemalt, die Haltung wie die Frida Kahlos, symmetrisch im Mittelfeld. Sie hält einen Spiegel vors Gesicht und schaut mich daraus an. Immer wieder blicken mich diese dunklen Augen an, Augen von Modellen, nicht Aida selbst. Muluneh führt Regie, sagt, sie verschmelze mit ihren Modellfrauen, arrangiert sie zu Szenen in der Wüste, auf Salz und Sand, im Meer wie für einen Film oder eine Modezeitschrift. Manche ihrer Frauen tragen Schlüssel am Gewand, einer davon sieht aus, als wäre er in Blut getaucht worden. Blutrot wie die Sterne der kubanischen Revolution, die immer wieder auftauchen. Merkwürdig. Merkwürdig auch die Briefe, die wie Fahnen durch die Wüste getragen werden, eine aufgeschnittene Papaya ist ins Bild geschoben wie eine Anklage, eine Vagina vielleicht, postiert unter dem unverwandten Blick der Frau. Ich sehe Hände mit Wollknäueln und Fäden, sehe Telefonkabel, Leitern, Spiegel und eine weiße Taube. Am meisten beeindruckt mich das Foto einer blassblauen Meer-Himmel-Landschaft. In ihr schreitet eine Frau mit blauem Turban und blauem Schirm, in rotem Faltenkleid durchs seichte Meerwasser, aufrecht, eine Schnur mit knallgelben Benzinkanistern hinter sich herziehend. Absurd und sehr schön. Schönheit ist da und eine Ahnung von Jenseitigkeit, eine, die Vergangenheit und Zukunft aus der Gegenwart herausheben.

Vielleicht ist es das Zusammenbringen von Gegenständen und Frauen in die Leere der Natur, vielleicht ist es dieses viele Lose, das wir immerzu verknüpfen wollen. Verknüpfen mit Ideologien, Kulturen und Religionen. Muluneh drängt uns heraus aus solchen belegten Räumen. Und lässt neue einziehen. Ihre Großmutter hat es ihr prophezeit: Wenn die Welt anklopft, dann öffne die Tür für eine weitere Zukunft. Sie wäre unvollständig und würde es immer bleiben. Die Welt sei 9. Was für eine großartige, beruhigende Weisheit. 

Weniger beruhigend sind die Worte der Künstlerin, die über das Metaphorische hinausgehen, denn da klagt sie an und schreibt, dass das Leid der anderen auch zu uns finden würde. Ignoranz, Egoismus und vermeintliche Überlegenheit würden nicht mehr schützen. Und vom Zeugenstatus weg, drängt sie uns zum Handeln. Fragt sich bloß wie, wenn die von Mulaneh selbst so genannten Schwelle Zukunft schon verloren zu sein scheint?

Sand ohne Getriebe

Sand” – eine Ausstellung im Bad Homburger Sinclair-Haus

Eine klare Besucherstimme liest aus dem Begleitheft der Ausstellung vor: „Wo begegnet uns Sand?“ Als Material, seine Schönheit, als Idee der Sehnsucht und als Traumsubstanz für die Flucht aus dem Alltag … in vielfältiger Verwendung … Sand, zentrale Ressource menschlicher Zivilisation …

Wie im Leben beginnt die Ausstellung mit dem Sandkasten, beginnt mit Kindern am Strand. Im Video rennen sie, barfuß natürlich, und erschaffen Räume. Ich sehe nicht richtig hin, erinnere mich aber daran, wie es ist, wenn Füße einsinken in die körnige Sandigkeit, spüre, wie mir die Wellen den Boden wegziehen und mich darunter ein weiterer wieder festigt. Sand – wenn man darin gräbt oder Sand, wie er durch die Finger rieselt, verwehender Sand im Wind. Die Kinder nehmen Förmchen und schaufeln Sand zu Mauern, Burgen, Wachposten. Meersand. Wir spielen und bauen, kreieren Welten mit ihm, wohl wissend, dass die Zeit sie bald wieder auslöschen wird. In der Ecke gegenüber der Videoinstallation steht ein Strandkorb, Besucher setzen sich hinein, auch die Vorleserin. Hier wären sie draußen, wären ein wenig geschützt, wenn sie keinen Sand mehr an der Haut kleben haben, ihn aber noch sehen wollen, wie er über den Strand fegt und die Gischt aufsaugt. Sehr viel Sand macht Inseln und wird zur Ursubstanz einer Sehnsucht nach Weite. So sehe ich die Fotos von Andreas Gursky, der die berühmten Inseln vor Dubai fotografiert hat, wie sie aufgeschüttet wurden. Mit einem Trick hat er die leeren goldenen Sandflecke auf blauem Meer umgeordnet zu Elementen einer selbst gemachten Geografie.

Weitere Ausstellungsräume zeigen Sand als industrielle Ressource, Sand, der aus fernen Landschaften geschöpft und abtransportiert wird, gewaltsam verpackt vor allem in ausufernde Städte und klaffende Bauruinen. Sand, ein fünftes Element wie Erdöl oder Elektrizität, Grundstoff für den Menschen. 

Im Strandkorb ist die Stimme der Vorleserin verstummt. „Willst du’s lieber selbst lesen?“, fragt sie schließlich ihren Begleiter. Der hört längst nicht mehr zu, weist auf das Sandhäufchen unter der Videowand und murmelt: „Als Erwachsener traut man sich das nicht mehr, hier mit Sand zu spielen.“

Genau. Traut man sich nicht. Denn hier begegnet uns die Natur des Sandes bestenfalls versteckt, domestiziert in künstlerischer Betrachtung. Nach draußen möchte ich jetzt gehen und würde gern den berühmten Sand ins Getriebe auch dieser Ausstellung streuen. Stattdessen zeichne ich noch den Strandkorb und stelle mir vor, von dort aus die Musik der Strandes zu belauschen und zu bestaunen, wie die Welt vom Sand verrieben wird, während ich sie einfach in Ruhe sein lasse.

Hinter dem Auge

Die Kunststiftung der DZ-Bank zeigt „Dialektik der Präsenz“.

„Dialektik der Präsenz“ – was für ein sperriger Titel, typisch eher für akademische Kunstseminare. Trotzdem macht er neugierig auf die Ausstellung der seit 2021 aktiven Kunststiftung der DZ-Bank. 

Ich verlasse den Verkehrsstrom der Straßenkreuzung am Platz der Republik und laufe im Strom der Bankangestellten zu ihrer Arbeitsstätte. Erstaunlich, wie friedlich der Platz auf einmal wirkt: ein grün umsäumter Teich voller Brünnlein und mitten darin das prächtige Kunstwerk „Welt“! Die 1989 aufgestellte Skulptur von Andreu Alfaro ragt zehn Meter in den Himmel hoch und scheint, zumindest vom ersten Bankgebäude aus betrachtet, wie ein Vogel zum Flug anzusetzen. Mit aufgespreitzten Edelstahlsprossen überspannt sie zudem den Weg der Angestellten und präsentiert sich, wie ein Palmwedel, der Sonne. Im flüchtigen Vorbeigehen habe ich sie so komplex nie wahrgenommen.

Aber jetzt. Jetzt stimuliert mich diese „Welt“ für die Ausstellung. Ich betrete das erste Gebäude. Menschen laufen über den lichtgefluteten Boden, der sich nach draußen hinter der Glasfront fortsetzt. Ausstellungsbesucher sind offensichtlich keine darunter. Und meine Begehung ist an den Schranken der Rolltreppe leider zu Ende. Wo ist die Schau? Sie beginnt hier mit den Werken von Beatrice Minda. Was für eine Entdeckung! Mindas Fotos verzaubern unmittelbar und versetzen mich in sakrale Raumschluchten, eine gefüllt mit seltsamen asiatischen Puppen, die nur schemenhaft auszumachen sind. Die Künstlerin führt meinen Blick in alte Pagoden, auf leere Bühnen heiliger und vergangener Schauplätze. Geheimnisvolles leuchtet heraus, eine Ahnung von Raum und Zeit jenseits des Alltäglichen.

Die eigentliche Ausstellung befindet sich aber, wie ich bald feststelle, im Cityhaus I. Dort tragen fröhliche Schüler Stühle für einen Workshop umher. Sie verschwinden irgendwohin und es wird wieder still auf zwei menschenleeren Etagen. Oben finde ich schließlich das seltsame Kunstwerk, das überall plakatiert ist, „Zwei Mädchen mit Schatten“ von Hans-Peter Feldmann. Es handelt sich um ein Foto, auf dem ein Mädchen ein anderes berührt, das aber weggeschnitten wurde und nun hell erstrahlt. Die Berührung ist eine Geste der Zärtlichkeit oder ist sie von einer Neugier gegenüber dem Fremden getrieben? Die Mädchen werfen lange Schatten auf den Steinboden, was auf die Anwesenheit beider schließen ließe. Doch eines fehlt und man fragt sich, wohin es verschwunden ist und warum?

Es ist ein berührendes Kunstwerk, das beklommen stimmt. Selbst in bewusst erlebten Momenten bleibt das meiste unbegreifbar. Es flackert auf in unserem Betrachten. Dann ist es wieder weg. Eine ganze Welt betrachtet hinter dem Auge das Betrachtete, eine ganze Welt im Verborgenen. Solche Überlegungen stehen ähnlich auch im Begleitheft. Spannende Gedanken über Medien, Gott und die Liebe etwa, und die Frage, warum wahre Präsenz immer die Abwesenheit von Eindeutigkeit voraussetzt. Ich habe viel gesehen, viel zu überdenken, und als die Glastür hinter mir in die Angeln schwingt, tanzt auf Alfaros Plastik das Sonnenlicht.

Ernst Weil entdecken

Das Museum Giersch zeigt wieder einmal einen Künstler, der in Frankfurt geboren wurde und in Vergessenheit geraten ist: Wer war Ernst Weil? Beim Eintritt in die Ausstellung schaut einem ein gut aussehender Mann in die Augen. Herausfordernd und direkt. Die weichen Konturen seines Baumwollhemds schmiegen sich freizügig um Hals und Oberkörper. Schwarz, Grau und Weiß. Daneben das helle Blau des Plakats mit seinem Namen. Ich sehe ihn mir lange an. An wen erinnert er mich? Später finde ich den Schauspieler Steve McQueen. Aber Weil sieht besser aus.

Wir gehen chronologisch vor. Von naiv über kubistisch, bis, ja, wie könnte man das nennen, diese futuristisch dynamisch gefassten Bewegungen? 1919 geboren, bekam Weil den Zweiten Weltkrieg mit vollem Bewusstsein mit. Das lässt sich seinen Werken ablesen. Ich sehe Maschinen, in die Schräge geratene Häuser, vielleicht Kanonen, alles scheint auseinander zu fallen. Eckig gesetzte Linien, ineinandergreifende Striche, die sich scheinbar wie Körper zueinander verhalten. Städte verschmelzen zu Flächen, die diesen Dingen einen Rahmen geben, expressiv und stark. Hier tummeln sich Kräne, Straßenbahnen, Automobile wie eigenwillige Wesen. Ein Bild etwa zeigt zwei kleine Boote, ganz schwarz, das eine setzt mit einem zielenden Balken in Richtung des anderen. Was für Interaktionen! Nicht zwischen Menschen, nein, zwischen Dingen! Das hat etwas Spielerisches. Auf seinen frühen Malereien vor allem scheinen die Gegenstände miteinander zu sprechen, sich zu necken, zu foppen. Besonders drollig finde ich zwei Stühle, die angezogen sind mit Fliege und Anzug wie für den Ausgang ins Theater. Sie treten gegeneinander in Stellung, gehen aufeinander los, kokett, abweisend oder in böser Absicht. Es macht mir Spaß, diese kommunikativen Spielereien zu entdecken. Auch in Weils Illustrationen, die er für Zeitungen und Buchcover gemacht hat, steckt dieser Humor und die Lust am Verbinden, was auf den ersten Blick nicht verbunden ist.

Weil zieht nach Frankreich, lässt sich von Picasso und den französischen Kubisten inspirieren. Dann wird er nach Nürnberg gerufen und arbeitet als Lehrer an der Kunstakademie. Wir hören eine Lehrstunde, hören sein schleppendes Hessisch, aber auch den herausfordernden Ton, mit dem er seine Kunstschüler dazu zu bringen will, sich kritisch mit ihren Werken auseinanderzusetzen. Er selbst hat seinen Stil im Laufe der Jahrzehnte regelmäßig erneuert. Interessant sind dabei für mich seine Bewegungsstudien, die er in einer Boxerhalle auf die Leinwand wirft. Sie erfassen wellenartige Bewegungen, aus denen sich Figuren herausschälen. Sie schwingen mit diesen Wellen und formen sich neu. Über körperliche und räumliche Grenzen hinaus. 

Getriebe im göttlichen Gewand

Maschinenraum der Götter – Ausstellung im Liebieghaus

Ein Kranz mit 36 Fixsternen, zwölf Sternzeichen und eine über allem prangende Sonne blitzen um Artemis’ Haupt. Hinter ihren Schultern ragt eine liegende Mondsichel heraus, die der Jagdgöttin als Bogen für ihre Pfeile dient. Das Original, erzählt ein Lehrer, habe einst vor der Akropolis gestanden. Jetzt flösse alles kosmische Wissen der Antike in dieser Statue zusammen.

Die Ausstellung „Maschinenraum der Götter“ hat sehr viel Spektakuläreres zu bieten als diese Artemis. Allerdings gibt sie wegweisende Rätsel auf, etwa solche Fragen: Wie gestalten Erkenntnisse eine Kultur? Wurden sie wirklich, wie die Schau suggeriert, durch den Blick in die Sterne generiert? Und: Wozu benötigt man Mythen für die Einbettung von Erfindungen? Dass Götter bei der Umsetzung neuer Erkenntnisse in Technik mit großem Erfolg Modell gestanden haben, ist jedenfalls höchst inspirierend. Ein wahrhaftiger Denkanstoß. 

Die Wände des Liebieghauses sind mit technischen Zeichnungen überzogen. Wie universelle Gesetze sehen diese grafischen Skizzen aus, sollen wohl den Eindruck vermitteln, alle kulturellen Manifestationen zu transzendieren. Zunächst stehen mit Astronomie und Mathematik die Ägypter und Mesopotamier vor. Eine kleine Tontafel voller Einkerbungen legt nahe, dass es den Satz des Pythagoras schon Jahrtausende vor seinem Namensgeber gegeben habe. Mit der prometheischen Urkraft des Feuers ziehen die Griechen weiter, allen voran Archimedes, das Urgestein des genialen Erfinders. Danach folgen die Römer, mechanisieren aus reinem Vergnügen Bewegungsabläufe, wie die kolossale Tafel in Kaiser Neros Palast zeigt. Als „Cenatio Rotunda“ rotiert sie unter einer planetarischen Kuppel wie die Erde im Kosmos. Sehr cineastisch wirken die Skulpturen von Kleinkindern, die, auf einer Scheibegedreht, zu einem einzigen Jungen verschmelzen. In der Rotation sieht es aus, als hasche er unentwegt nach einem Rebhuhn. In der Neuzeit fasziniert der Körper. Auf maschinelle Abläufe reduziert, gerät die menschliche Selbstwahrnehmung ins Unheimliche. Die Automatisierung endet in der Schau mit Jeff Koons, um dessen quietschbuntem Apollon eine Schlange züngelt. Ich frage mich, was der da soll. Sagen, wie verführerisch Erkenntnis ist, oder dass es die erleuchtende Verführung, die Apoll in die Welt bringt?

Für die Stationen dieser Geschichte braucht es Zeit. Aber es lohnt, sich auf sie einzulassen. Lange staune ich über den „Turm der Winde“ aus Athen. Ein Wunderwerk soll sich damals darin befunden haben: nämlich eine vom Titan Atlas geschulterte „Sphaira“. Der kugelförmige Apparat wurde von Wasser angetrieben und setzte die Planeten in ihren simulierten Laufbahnen in Bewegung. Es war also ein Planetarium aus der Zeit von vor 2500 Jahren.

Erstaunlicher noch ist der Fund von Bronzeklumpen im Mittelmeer, die zusammen als „Mechanismus von Antikythera“ Berühmtheit erlangten. Archäologen identifizierten ineinander greifende Zahnradgetriebe unterschiedlicher Größe, vergleichbar mit dem Mechanismus einer Uhr. Mit dieser Apparatur konnte nicht nur der Jahreslauf von Sonne und Mond berechnet werden, sondern sogar deren Anomalien, sowie Sonnen- und Mondfinsternisse. Das Gerät ist unfassbar kompliziert und zugleich kompakt und von höchster Eleganz. Stanley Kubrick hätte das Ding nicht besser gestalten können.

Beim Vor- und Zurücklaufen stoße ich später noch einmal auf Artemis. Dieses Mal wirbelt sie in christlichen Himmeln, immer noch zusammen mit dem Mond und den 36 Sternen. Im Gegensatz zur Jagdgöttin aber schaut sie jetzt verklärt in den Himmel. Es fällt auf, dass griechische Götter, anders als die mittelalterlichen Heiligen, geradeaus blicken, also auf die Welt.

Mich erblickt am Ende ein Wärter. Er sagt, er würde mich von früher her kennen. Philosophie habe er studiert und liebe es, durch die Räume des Liebieghauses zu schweifen. Manchmal schreibe er etwas auf, so wie ich. Ich bin berührt, habe einen Philosophen getroffen, der mich wieder ins Profane zurückholt. Draußen scheint die Sonne und auf der Parkwiese tummeln sich die Kaffeetrinker.

Niki de Saint Phalle, Terroristin der Kunst

In der Kunsthalle Schirn

Niki de Saint Phalle – ich kenne ihre knallbunten mit Glassplittern glitzernden Riesengestalten, dicke Bäuche, Brüste, kolossale Popos, wulstige Arme und Beine, diese frei proportionierten Rundungen auf Plätzen von Paris oder New York. Übermächtig sind sie und tänzeln, sitzen erdschwer oder liegen wollüstig mit gewölbtem Busen und einladender Vagina. 

Ganz unbekannt dagegen zeigt sich mir de Saint Phalle jetzt in der Schirn. Denn mit Gestalten aus Gedärmen, Würmern, Spinnen, Plastikpüppchen, Gummi, Eisenstäben und Spielzeugmüll, Dingen, die Körper wie Lagerstätte füllen, habe ich die amerikanisch-französische Künstlerin nicht verbunden. In der Ausstellung prallt einem geballte Wut und Ekel entgegen. Eine Wucht, die die 1930 geborene Tochter aus altem Adelsgeschlecht getrieben haben muss und die der Kunstwelt in den 1960ern in wilden Performances ihren Stempel aufdrückte. Genauso sah der Beginn ihres Schaffens aus. Das Frühwerk dieser selbst ernannten „Terroristin der Kunst“ ist für mich eine Entdeckung der unheimlichen Art. Bis die scheinbar fröhlichen Nanas den Händen der Künstlerin entwuchsen, hat sich de Saint Phalle gegen das Establishment und jede Art missbrauchter Macht ausgetobt. Sie hat Gips-Skulpturen und Köpfe mit Farbe gefüllt und anschließend auf sie geschossen, sodass die Farbe nur so aufspritzte. Sie schoss auf den Krieg, auf sexuelle Gewalt, auf Kirche, Familie und ehrwürdige Häupter der feinen Gesellschaft. Kunst als Racheakt! Danach ging es, fast unheimlicher noch, weiter: Da ist zunächst die gruselige Reiterin mit weißem Schleier auf opulent gerüstetem Pferd. Der zivilisatorische Reichtum, aus dem es besteht, ist zu Schrott verkommen, auch wenn es noch so schön glitzert. Die verbundenen Objekte ergeben neue Einheiten, meist sind es Frauen. Sie wirken von nun an wie als seien sie der Verwesung anheimgestellt. Mit gespenstischen Matronen schuf de Saint Phalle in einer weiteren Schaffensphase dagegen weibliche Monster. Unfassbar dick und unförmig sehen sie aus. Ihre Blicke lassen gruseln und auf traumatische Abgründe der Schöpferin schließen. Dabei sind es dekorativ gekleideten Damen. Ausgestattet mit stechenden Brüsten und zellenartig wuchernden Herzen und Blumen machen sie das Leben im Leben sichtbar. Seinen ewigen Wandel und seine Vergänglichkeit. Eine dieser bösen Nanas sitzt mit Lockenwicklern, blutrotem Mund und hohlen Augen vor dem Schminktisch. Wie eine Spinne verharrt sie dort. Eine amorphe Körpermasse. Erstarrt, wie tot. 

Dann ist da das Duo von Kennedy und Chruschtschow, verschlungen, verwachsen zu einem einzigen Körper. Einer mit zwei grinsenden Köpfen. Groteskes Sinnbild des Kriegswahns, denn ihr Rückgrat ist eine Rakete, Bauch, Arme, Beine durchwachsen mit Gummiringen und Kampfflugzeugen im Gedärm.

Im hinteren Bereich des langen Raums warten schließlich die ansehnlichen Nanas. Da sind sie also. Figuren, die sinnlich sprühende Lebensfreude ausstrahlen. Nun finde ich einen neuen Zugang zu ihnen, denn ich spüre ihr Geheimnis. Ein sehr persönliches und ein gut verpacktes. Großartig!

Geld oder wen holt’s der Teufel

Im Geldmuseum der Deutschen Bundesbank

Geld ist eine Erfindung, ist ein Glaubensbekenntnis. Als Denar, Taler, Pfennig, Yuan, Dollar, als Münze oder Schein, als Gold, Silber, Salz, Kohle, Heu oder Kakaubohne, inzwischen einfach nur ins Buch gedruckt, kommt es mit zahllosen Namen und Erscheinungsformen daher. Es setzt uns in Bewegung. Handel, Wandel, Entwicklung und Kunst, ja zwischenmenschliche Beziehungen – vom Geld motiviert, erfinden Menschen ihre Welt oder halten, im Gegenteil, an bewährten Geldschöpfungspraktiken fest. Bargeld ist dabei das Greifbarste. Es wird hierzulande von der Deutschen Bundesbank bereitgestellt. Seit 1999 ist sie Teil des Eurosystems und im gleichen Jahr eröffnete sie ein Museum. 

Ich bin zum ersten Mal im Geldmuseum. Tageslicht fällt vom Glasdach durch das Haus. Wir nähern uns der Kasse, Geld braucht es für den Besuch keines. Der Eintritt ist frei. Wie eine Empfangsdame tritt uns eine Frau entgegen, erklärt die Raumaufteilung des Hauses, entlässt uns über ein paar Stufen ins Untergeschoss, wo rechts die Cafeteria liegt. Hier beginnt die Ausstellung …

… und gibt sogleich zu verstehen, dass uns Geld von der Wiege bis zum Grabe mit Geschichten versorgt. Beleuchtete Fenster erzählen von Reichtum und Macht, von Freiheit und Glück und Spiel oder von Habgier, Betrug, Verrat. Viele dieser Geschichten haben mythischen Status erlangt. Das demonstriert zuallererst die Schatztruhe vom legendären Piraten Captain Kidd, nach dessen reicher Beute, wie es heißt, noch immer gesucht würde. Daneben schmückt ein Apfel aus Gold ein Bildnis von König Midas und seiner zu Gold erstarrten Tochter. Er symbolisiert einen magischen und tragischen Verwandlungsakt: wenn alles zu Gold wird, weicht das Leben dem Tod. Daneben steht ein Tresor und ich lerne, dass sich das Wort ‚Tresor’ vom griechischen ‚Thesaurus‘ herleitet, in der Antike ein Schatzhaus, dem man kostbare Weihgaben opferte. Guthaben zu thesaurieren hieße demnach, es für etwas Größeres einzulagern. Auch privat. Im nächsten Fenster steht eine Uhr, stellvertretend für Benjamin Franklins Vorstellung, wonach Zeit Geld generiert. Das Gespann von Disziplin und Arbeit, dem Geld entspringt, wirkt lebloser noch als die Umwandlung von Leben in Gold. Bequem wird es dagegen mit einer Erfindung des Geschäftsmanns Robert McNamara. 1950, lese ich, besuchte er ein Lokal in New York und da er kein Bargeld bei sich trug, erfand er den “Diner’s Club” und mit ihm der praktischen Karte, mit der er auf Kredit bezahlen konnte. Die Kreditkarte maskiert seither den faktischen Geldwechsel, suggeriert vermeintlich sorglose Konsummöglichkeiten mit Hilfe dieses Stück Plastik.  

Das Museum ist groß und vielfältig. Ich lerne sehr viel über die Geschichte des legalen und illegalen Geldverkehrs und bestaune andächtig die ältesten Münzen, Papierscheine verschiedenster Herkunft sowie deren Fälschungen, aber auch andere Dinge wie Steine, Kakaubohnen oder Salzbarren, die einmal als Geld gedient haben. Am längsten verweile ich in einer abgedunkelten Kammer, die den Beginn des Bankensystems in Italien illustriert. Die warmen Farben in den Darstellungen des Rinascimento verleihen der aufsteigenden Macht der Banken etwas Heiliges. Ihre Sprache verrät, was da geschah. So war etwa die „Banca“ der Tisch, über den geliehenes, anvertrautes Geld der Gläubiger (credito) wanderte (girare). Konnte es nicht zurückgezahlt werden, brach dieser Tisch entzwei, „banca rotta“. Die banca wurde zum Symbol einer neuen Macht, dem kirchlichen Altar nicht unähnlich. In Deutschland spielte die Familie Fugger im 16. Jahrhundert eine zentrale Rolle im Geldverleih, besonders profitabel gegenüber Königshäusern und der Kirche. Zusammen mit der Dynastie der Kaufmannsfamilie Medici in Florenz verwendeten die Fugger aus Augsburg ihren erworbenen Reichtum in erheblichem Maße zur Förderung der Kunst. Wie kamen sie darauf? Geld brachte Kunst zur Entfaltung. Ich sehe Jakob Fugger den Reichen, gemalt von Albrecht Dürer, und bekomme das Gefühl, einem Zeitgenossen gegenüber zu stehen. Eigentlich war das Verleihen von Geld bekanntlich verboten. Schon flammt und dampft das Höllenfeuer. Wen holt der Teufel?

Inzwischen hat Geld auch etwas Spielerisches, fast Leichtes. Im Kinosaal sind Münzen um uns, hüpfen, springen, klirren und blinken wie Regentropen auf einem Tempeldach. Ein Tanz der Schwerlosigkeit.

In der Cafeteria treffen wir auf den Museumsdirektor. Sehr aufgeschlossen, befriedigt er unsere vielen Fragen. Als er erzählt, dass die Deutsche Bundesbank 136.637 Goldbarren à 12,5 Kilo direkt unter unseren Füßen lagert, also 1.710 Tonnen, sind wir tief beeindruckt. Klauen könne man es nicht. Allein schon des Gewichts wegen, sagt er und lacht. Dann ruft ihn jemand, er entschuldigt sich. Ich hätte gern noch gewusst, was man mit diesen Reserven jetzt eigentlich macht. Noch immer lässt sich Gold ja nicht essen. Und außerdem: Sind es heute nicht eher andere Metalle, die wir essentiell brauchen? Ich lasse den weiche amerikanische Cooky angebissen stehen und kehre zurück in die Ausstellung. Den Barren muss ich noch erkunden. Was für ein Ding! Derart konzentriertes Metall aus einem Guss. Man darf ihn in einem gesicherten Kasten ein kleines bisschen heben. Reines Gold. Wenn alles verschwindet, bleibt es übrig. Unser Glaube, unsere Faszination. Sinnlos schön.

Papier schneiden und Dimensionen durchschauen

Die dritte Dimension kommt ins Papier. Blätter und Bücher werden geschnitten, gerissen, perforiert, gelöchert. Dadurch tun sich unerwartete Öffnungen auf, ich schaue auf den Raum, der dahinter verborgen ist. Schaue in etwas hinein, das vorher nicht war.

Gemeint ist das Prinzip Die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle. Dieses weltberühmte Kinderbuch macht verständlich, was möglich wird, wenn die dritte Dimension in ein gewöhnliches Buch Einzug hält. Der Trick: Das Tierchen frisst sich durch saftige Früchte, wird dadurch immer dicker, runder und verwandelt sich schließlich in ein neues Wesen. Es ist das Loch, durch das unsere Finger der Raupe folgen, das uns im Nu begreiflich macht, was passiert: Eine Verwandlung. Wie rätselhaft das ist!

Die Ausstellung des Buch- und Schriftkunst-Museums Klinspor in Offenbach Cut, Schnitte, die den Raum bedeuten zeigt die taktile, plastische Seite der Buchkunst. Sie vergegenwärtigt, dass Papier- und Buchkunst nicht bloß Wörter, Sätze und Texte illustriert, sondern dass es Einblicke schafft, die das Auge erkunden und mit all seiner Erfahrung sogar lesen kann. Das heißt zu erkennen, was Architekturen, Figuren, Körpern für uns verkörpern und was sie bedeuten.

So etwa, wenn das Wort ZWEIFEL in Großbuchstaben auf einem Stapel eine räumliche Grenze erschafft, wenn ein Buch durch Bögen und Fenster immer tiefer blicken lässt. Oder wenn ein Leporello, durch dessen bildhafte Darstellungen Wasser fließt, seinen Lauf auf einen Blick verfügbar macht. Beeindruckt bin ich von zwei schwarzen Leinenschachteln, die ein Geflecht aus Papierstreifen präsentieren, bedruckt mit biblischen Sätzen – Halleluja von Corinna Krebber. Berührt von Büchern, die ausgehöhlt wie Särge, das menschliche Leben in wenige rätselhafte Wörter zerfallen lässt.

Irgendwie geht es, dass sich Umwelten, wie etwa Plätze, Straßen, Gebäude, dass sich Freitreppen, Mauern und Gartentische in Bücher, Sätze, Wörter, Laute und gestaltete Bilder verwandeln. Das Dreidimensionale verkörpert eine alte Sprache, und jetzt wird sie neu übersetzt.

Türen aufstoßen … mit Marcel Duchamps

Beim Eintreten stellen die geometrischen Räume des MMK ihre Leere frei für Marcel Duchamps. Das Weiß fliehender Wände vibriert, Klavierklänge, dunkle gegen helle, durchzittern die Luft. Nach und nach taucht das Skurrile auf, was Duchamps bekannt gemacht hat – wie ein totes Insekt hängt einem der Huthalter im Blick, dann kommen Flaschentrockner, Urinalbrunnen, Fahrrad-Rad auf Küchenschemel. In dieser transparent wirkenden Halle ziehen die Objekte in alle Richtungen. Rechts steht ein Fenster an der Wand, „Fresh Widow“, ein Wortspiel; auf der Schwelle zur Treppe ein Brett mit Kleiderhaken, eine Stolperfalle; eine Schneeschaufel in der äußersten oberen Ecke. Das großzügig verteilte Arrangement der von Duchamps so bezeichneten „Readymades“ wirkt wie eine Dimension in Alices Wunderland. Aus ihren funktionalen Rahmen gerissen, hat er die industriegefertigen Objekte in die Kunstbetrachtung gerückt. Duchamps stieß das künstlerische Genie vom Sockel und entzog ihm die romantische Aura. Ich erinnere mich, wie wir in der Schule in strapaziösen Diskussionen um den Sinn dieses Untenehmens gerungen haben. Es war wie das Aufstoßen einer Tür in ein Spielzimmer voller Bausteine, die dauernd umfallen.

Wir verlassen die Halle durch die Fluchten zu den angrenzenden Räumen. Duchamps chronologisch: Erst einmal Öl auf Leinwand, Klobiges. Dann Skizzen, Striche, die Personen Leben einhauchen. Der Anfang ist nicht spektakulär. Doch bald entwickelt sich etwas. Ich bemerke einen hin und her pendelnden Wärter vor einem Durchbruch mit den Konturen eines Paares, das zur Haupthalle marschiert. Am Boden spiegeln sich weiße Säulen und die Silhouette des schwarz gekleideten Wachmanns wie auf einem Nordseestrand bei Ebbe. Die Aufgabe sei, hier niemanden durchzulassen, erklärt der Wachmann und ich frage ihn, was denn dann passieren würde. Just erscheint ein Paar von der anderen Seite und setzt sich mit knappem Kommentar über das Diktat hinweg. Der Mann sei Kurator gewesen. Wir lachen alle drei. So ein Unsinn! Vielleicht ist der Wachmann Teil der Ausstellung und weiß davon nichts?

Im Flur gibt es Briefe zu lesen. Viele an Suzanne Duchamps, seine Schwester, etwa über die Vereinsamung des Pissoirs oder doppelsinnige Anweisungen wie: „Nimm diesen Flaschentrockner. Ich mache daraus ein „Readymade“ aus der Entfernung. Du schreibst mit einem Pinsel für Ölfarben mit silber weißer Farbe … in die Innenseite und signierst mit Marcel Duchamps“.

In höheren Stockwerken warten weitere Überraschungen. Bannende Spiralen, schräge Sounds, kubistische Dramen – das des „Traurigen Mannes im Zug“ finde ich sensationell; Schachspielen gibt ein eigenes Kapitel ab, ermöglicht vertrackte Bezüge zu des Künstlers Gesamtwerk. Wir lachen über Duchamps in weiblicher Ausführung Rose Sélavy, über den Autor dadaistischer Bücher und surrealistischer Manifeste, und dann sitzt er vor dem Spiegel mit Haarkronen aus Schampoo.  

Im MMK berührt der Geist Marcel Duchamps’. Verschmitzt, verspielt, vor Ideen sprudelnd durchweht er den Kunstpalast. Ich hätte ihn mir anders vogestellt – und betrachte in einem Film minutenlang sein entspanntes Gesicht, wie er schaut, freundlich und lächelnd. Es ist ein schönes Gesicht, 1965 mit 78 Jahren. Da blickte er längst auf ein kompromissloses Künstlerleben zurück, das so viele provozierte und der Avantgarde neue Wege bereitete. Duchamps hat eine Form des Kunstmachens in die Welt geworfen. Er war so frei, das Sehen von Kunst umzufalten. Als Schülerin fand ich das vermessen, heute bin ich ihm dafür dankbar.