Besuch in der Graphischen Sammlung des Städel
Wie schnell er zeichnen konnte und wie treffsicher! Er konnte die Stimmung einer Epoche mit feinen Pinselstrichen einfangen. Ein Künstler. Honoré Daumier (1808 – 1879). Im verdunkelten Seitenflügel von Städels Graphischer Sammlung stehen wir vor seinen Zeichnungen und blicken wie durch Fenster ins Frankreich des 19. Jahrhunderts. Wir erkennen seine Zeit im Mienenspiel und den karnevalesken Gesten der Figuren, an der Art, wie sie sich einander zuwenden oder vollkommen in ihre fleischigen Bäuche versinken. Ihre Haltungen sind überzeichnet, zeigen aber auch keinerlei Scham, vielleicht weil es keine allgegenwärtigen Kameras gab – nur den politisch engagierten Betrachter Daumier, der bereits im Alter von zwanzig Jahren die Seelenzustände mächtiger Protagonisten zu erfassen vermochte – ihre Gier und Schläue, ihren Hochmut und ihre Ignoranz. Damals stand in Frankreich, stand in Europa der Frieden auf dem Spiel. Ob intern die Monarchie oder die Republik den Sieg davon tragen würde, war noch nicht endgültig ausgemacht. In die drohenden Spannungen zwischen Frankreich und Preußen oder Russland zwängte sich indessen auch da schon in kraftlos ausgeleiertem Kleid die alte Dame Diplomatie dazwischen, während Europa als balancierende Fortuna auf einer bereits gezündeten Granate das Gleichgewicht zu halten sucht.
Die Zeichnungen und Lithographien dieses als „Michelangelo der Karikatur“ bezeichneten Künstlers (dabei wäre Da Vinci ein passenderer Vergleich, der doch wie kein anderer den Alltag der Menschen in ihren Gesichtern zu erfassen suchte) könnten genauso gut in der heutigen Presse abgedruckt sein. Es ist aber die quirlige Intensität der menschlichen Beziehungsakrobatik, die ausdrucksreiche Stärke ihrer Rollen und Masken, die den besonderen Charakter und die Dynamik seiner Zeit auszumachen scheinen. Der für verschiedene kritische Zeitungen arbeitende Illustrator Daumier musste das Wesen der Menschen erkannt haben und nutzte seine Gabe, es mit Graphit, Tusche und Kreide in lesbare Linien umzuwandeln. Wenn er sich einerseits mit leichten Federstrichen der Göttinnen der griechischen Mythologie bediente, so schöpfte er andererseits reichlich aus eigener Phantasie. Das alltägliche Leben auf den Pariser Straßen, in Wirtsstuben oder Salons werden ebenso lebensecht dargestellt wie die erstarrte Arroganz der Justiz oder die dummen Gesichter politischer Macht überspitzt. Dabei tauchen überraschend bekannte Motive auf, wie die Form der Birne als grundlegende Physiognomie, mit der Daumier den Politikern der dritten Republik seine charakteristische Komik verlieh, lange bevor sie für Altkanzler Helmut Kohl stehen würde. Bald darauf stehe ich vor einer Zeichnung („Halunke von einem Hausbesitzer“), die mich an Spitzwegs „der arme Poet“ erinnert: Ein Zipfelmütze tragender Mann im schmalen Bett hält den Regenschirm aufgespannt, um sich vor eindringenden Niederschlag zu schützen. Allerdings stammt diese Zeichnung aus dem Jahr 1847, also einige Jahre nachdem Spitzweg seinen Poeten 1839 erschuf.
Die aufbrechenden technischen Neuerungen finden Daumiers Interesse im Einzug der Eisenbahn, der Funkstationen und der Photographie. Lustige Zeitdokumente finden sich da, absolut einzigartig. Neu aber ist für mich, dass es bei der noch langsam fahrenden Eisenbahn eine Bank auf dem Wagendach gegeben hat, die den Fahrgästen den rußigen Fahrtwind und alle möglichen Partikel ins Gesicht und unter die Zylinder blies.
Ich möchte mit Maria Eindrücke zur Ausstellung im Café austauschen, als mich ein langes dünnes Männlein zurückhält, das mich regelrecht in die Gegenwart zurückruft. Ratlos scheint es vor den Wegweisern zu verharren – ein Bild mit dem Titel „nach rechts oder links?“